Die Symmetriker

Exzerpt aus der Enzyklopädie der philosophischen Strömungen des späten 21. Jahrhundert

“Kann sein was sein kann?”, tosender Applaus hallte durch die perpendikularen Hallen der Symmetriker. “Brokkoli!”, rief der Brokkolant. Dutzende Hände hoben sich in einer scheinbar fließenden Bewegung und schoben sich ihren sorgfältig vorbereiteten Brokkoli in die Ohren. Nun trat der Asymmetriker mit folgenden Worten auf die Bühne: “Der Gewinner des diesjährigen Literaturwettbewerbs ist somit:”, sein Gesicht verzog sich wie unter großen Schmerzen, er krächzte : “Anna”. Er nahm zwei Krücken unter dem Pult hervor, drehte eine davon um und verließ ächzend die Bühne. Der Brokkolant klopfte nun mit zwei gleichgroßen Prügeln auf eine Trommel ein, das wohlbekannte Zeichen. Dutzende Brokkolis verließen wieder die Hörgänge der anwesenden Symmetriker und verschwanden uniform in ihren Tuniken. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren verließen sie paarweise den Raum. Es schien perfekt. Doch das Leben eines Symmetrikers war in Wirklichkeit von Unregelmäßigkeiten geplagt, sie gingen in beständiger Furcht durch den Tag eine Ungleichheit von sich zu geben. Deswegen verehrten sie jene Mitglieder ihrer Vereinigung auch so sehr, die es schafften etwas Inhalt in ihre Sprache zu bringen. Und Anna war eine Virtuosin. Ihre Texte erzählten von gespiegelten Welten, ihre Lieder sangen von grandiosen Doppeldeutigkeiten und ihre Figur war ein Abbild ihrer selbst. Doch sie war zwiegespalten, wie sie alle. Eine zweite Stimme in ihrem Kopf, welche ihr immer zustimmte. Kein Gewissen, nur eine Wiederholung. Das war der Fluch der Symmetriker.

Sie hatten große Türme gebaut, in der Hoffnung die elenden Wolken zu verdecken, die das wunderschön monotone Blau des Himmels störten. In einem riesigen Projekt, mit Maschinen die garantierten, dass jeder Arbeitsschritt gleichzeitig vollzogen wurden, errichteten sie Bauten, die an Annas Schönheit grenzten. Mit Siegeln und Schnörkeln, Scharnieren und Reliefen, […]

Doch sie hatten die böse Sonne vergessen, welche nun einen riesigen Schatten auf die Hoheitsgebiete der Symmetriker warf. Dem Unglücksarchitekten wurde in einer an Drastigkeit bisher ungesehenen Aktion jeder zweite Schuh weggenommen und damit auf immer dem Hass seiner Kollegen ausgeliefert. In einem verzweifelten Versuch argumentierte die Führungsriege der Symmetriker, die Läufe der Schatten über die Monate als Gleichtum zu sehen; auf diesen Gedanken sprangen viele ausländische Wissenschaftler und Intellektuelle, welche ihre Chance sahen einige Symmetriker von ihren Wegen abzubringen. Sie sprachen über Erdrotation und Sonnenzyklen, Berechnungen und logische Schlüsse. Die Schatten würden jeden Tag etwas anders sein, ihre Anführer würden lügen, sagten sie. Diese Nacht brannten die Scheiterhaufen besonders hell.

In späterer Schriften würde man diesen Satz finden: “Die Symmetriker dachten nicht, sie lebten.” Sie waren nicht verrückt oder dumm, sie waren einfach viel zu sehr am Leben. Niemand wurde als Symmetriker geboren, sie wurden vom Schicksal geschmiedet. Und auch die Fachliteratur ist sich uneins darüber ob es eine gute Entwicklung war, dass alle Symmetriker Symmetriker wurden. Wäre die Welt ein bisschen ein anderer Ort gewesen; hätten sie sich nicht vor dem Wahnsinn verstecken müssen… wären sie etwas mutiger gewesen, die Symmetriker. Wir können uns nicht ausmalen, wie sie die Geschichte verändert hätten. Aber sie bauten Türme. Schrieben verkrüppelte Gedichte. Machten amputierte Gesten. Statt frei zu denken, legten sie ihre eigene Sprache, ihre eigenen Gedanken in Ketten, sperrten Geist wie Körper hinter Rituale und Traditionen, um ja nicht mehr fühlen zu müssen. Sie hatten ein Problem mit dem Wissen, dass ihnen keine Grenzen gesetzt waren, daher erschufen sie sich selbst welche.

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