regenbogen

Inmitten eines Ozeans an verbrannter Erde zwängt sich ein kleines, grünes Pflänzchen durch Geröll und Asche himmelwärts. Stiel und Blatt strecken sich stolz dem seltenen Licht entgegen, sind sich selbst Belohnung für die Unmöglichkeit ihrer Existenz. Nichts als Zufall ist verantwortlich für die kuriose Ansammlung an Tropfen, die der Pflanze als Reservoir dienen und nichts als Zufall, lässt jetzt ein Stück beschlagenes Metall auf sie niederkrachen.

Ein weißes Pferd prescht unverhohlen weiter über die Ebene, das frenetische Klapp-Klapp Klapp-Klapp seiner Hufe, gibt den unverkennbaren Takt einer Flucht vor. Auf dem Rücken des Rosses hängt ein Knabe, der sich mit schmerzenden Händen verbissen an der seidigen Mähne des Rosses festhält. Er beschwört sein Reittier mal leise flüsternd, mal panisch kreischend: “Schneller, Archimedes! Wie der Wind, Archimedes, hühott!” Seine Muskeln bis zum Reißen angespannt, kann sich Archimedes den Luxus einer eloquenten Antwort nicht leisten, braucht seine Lunge doch jeden Funken Luft, um die knochenbrechende Geschwindigkeit beizubehalten.

Der Bub dreht immer wieder hastig seinen Kopf und versucht einen Blick durch die dichte Staubwolke zu erhaschen, welche ihnen wie ein heller Schweif nacheilt. Doch nur in den nahenden Geräuschen lässt sich die Gefahr des Moments erahnen. Das Zischen von Atemstößen durch zu viele Reihen an Zähnen. Der dissonante Rhythmus von Gliedern in Bewegung, die nicht schön, sondern schnell sind. Das herzzerreißende Schaben scharfer Krallen auf steinerner Haut. Was auch immer ihnen folgt, balgt sich darum, an der Spitze der Verfolger zu sein.

Der Junge zittert am ganzen Körper, nur die pulsierende Wärme von Archimedes verhindert, dass ihm die Angst endgültig die Luft abschnürt. Er überlässt seine Finger dem Krampf und blickt voller Zweifel nach vorne. Er betet um einen Klecks Farbe, eine kleinste Veränderung des Horizonts. Und da! Wie ein erhörtes Gebet bricht ein loser Sonnenstrahl durch das Zwielicht der Wolken und erhellt in der Ferne einen grünen Hügel. Die Augen des Knaben werden feucht und er fühlt, wie der Knoten in seinem Bauch um einen Faden leichter wird. Die Königin hatte gesagt, dass alles gut werden würde und mit neugefundenem Glauben wusste er einfach, dass sie die Wahrheit gesprochen hatte.

Plötzlich ein triumphierendes Brüllen, näher, so viel näher als alles zuvor. Wie in Zeitlupe sieht der Bursche aus dem Augenwinkel einen kohlenschwarzen Punkt immer größer, immer spitzer werden. Eine Kralle schält sich aus der Staubwolke, hängt für einen Atemzug wie festgefroren in der Luft und senkt sich mit einem singenden Ton fast spielerisch nieder. Sie zeichnet eine rote Linie durch die Mitte seines Gesichtes und wäre die Absicht nicht so offensichtlich Vernichtung gewesen, müsste man die Bewegung als liebevoll beschreiben. Der Junge aber hört nur sich selbst schreien. Und als endlich der Schmerz einsetzt, folgt der Kralle ein Arm und dem Arm eine Schulter und zottelig getriebene Augen. Kurz trifft ein Blick der unaussprechlichen Angst auf einen der unverhohlenen Gier. Doch bevor sich die beiden besser kennenlernen können, gerät der Unterkiefer des Monsters unter einen galoppierenden Huf und verschwindet mit einem schmatzenden Geräusch wieder im Staub.

Eine Stille macht sich in dem Knaben breit. Verdrängt den Rotz seiner Nase und die Nässe seiner Hose. Denn über einem pechschwarz nahenden Abgrund, scheint ihnen verführerisch die strahlende Pracht einer Regenbogenbrücke entgegen. “Da Archimedes! Schnell, schnell, schnell! Sie hat uns nicht vergessen, danke, danke!” Der Bub schwingt seine starren Glieder in einem manischen Freudentanz, während Archimedes versucht die blutversetzte Spucke seines Mundes mit Luft auszutauschen. Das Ross hatte sein Limit vor langer Zeit erreicht und alles was seitdem folgte war gleichzeitig ein grausames Experiment am Körper eines Pferdes, sowie sein persönlicher Alptraum. Seine eigene Kraft wandte sich gegen ihn, jedes niedere behufte Tier hätte sich schon lange eine Pause zwischen den Zähnen der Verfolger erlaubt. Doch nicht Archimedes, nicht wenn es seine Aufgabe war den jungen Herren in Sicherheit zu bringen.

So erreicht das kaleidoskopische Stück Architektur vor ihnen seine Wahrnehmung nur begrenzt, ganz im Gegensatz zu dem Jungen. Die Vielzahl der Farben wirbelt durch seine Augen in seine Gedanken und zerrüttet die dunkle Panik darin, formt sie um in eine morbide Faszination mit dem Farbenkreis. Er dreht sich um und zeigt der nun deutlich lebendigen Staubwolke den Mittelfinger, hält den kichernden Kopf hoch, als der erste Huf auf den Regenbogen tritt. Und mit der Gewalt eines Sturmes, der Wucht einer Lawine, der Vehemenz eines Projektils im Flug findet die volle Kraft des aufgestauten Momentums keinen Halt an der magisch polierten Oberfläche und lässt den Oberkörper des Tieres explosionsartig zu Boden krachen.

Der Knabe sieht Lärm. Sein linker Arm ist Schmerz. Fühlt seinen Griff tief verankert in einer Mähne… Archimedes’ Mähne! Er ächzt seinen Körper vorwärts, bringt seine Augen mühsam auf gleiche Ebene wie die seines Begleiters. Blickt tief und sieht das Leben darin. Erleichterung trifft ihn wie ein Blitz. Doch wenige Schritte zurück donnert es Geräusche. Denn an der Kante der Schlucht türmen sich zuckende Beine, Luftlöcher beißende Mäuler, regenbogenumschleichende Krallen, die immer wieder unter wutentbranntem Gebrüll zurückgezogen werden. Dort wo sich die Wesen der bunten Konstruktion nähern, blubbert und kocht die Substanz augenblicklich, sodass es dem Bub vor lauter Dankbarkeit erst recht wieder die Tränen in die Augen drückt.

Er sieht sich um. Archimedes’ monumentaler Sturz hatte sie auf halbe Länge des Abgrundes geschleudert und es waren einige Meter bis zur anderen, grasüberwucherten Seite. Er denkt und denkt wie er sie beide über den letzten Rest retten kann. Doch, bevor er sich auch nur aufrichtet, beugt sich ein unnatürlich langer Arm über den brodelnden Abschnitt des Regenbogens und schmettert eine Kralle wie einen Fleischerhaken in Archimedes hinteren Schenkel. Ein kreischendes Wiehern zwängt sich aus dem geschundenen Leib des Pferdes und auch dem Jungen entkommt ein Schrei. Denn trotz dem penetranten Geruch von kokelndem Fell, setzen sie sich eindeutig in Bewegung.

Ruck für Ruck verlieren sie jene Zentimeter, die sie sich so verzweifelt erkämpft hatten. Er hält seinen Kopf an den eines winselnden Archimedes, Stirn an Stirn warten sie weinend auf ihr Ende.

Dann verändert sich etwas in dem Buben. Wo er zuvor seinen verletzten Freund gesehen hatte, entdeckt er jetzt eine rettende Stufe. Und egal wie weh es tut, egal wie tief sein Fuß in den Nüstern versinkt, kann er sich dem Gebot der Selbsterhaltung nicht entziehen, seine Muskeln nicht stoppen weiter und weiter zu kriechen, weg von dem Lärm, weg von der Angst, weg von Huf und Schweif.

Seine Finger graben tief in kühle Erde. Hinter ihm Geräusche die selbst einem Metzger die Röte ins Gesicht treiben würde. Es riecht nach Gras. Eine Biene surrt lieblich vorbei. Das Festmahl gerät gerade in die Gänge. Ein kleiner Spatz beäugt ihn neugierig. Frischer Wind zerwuschelt seine Haare. Eine Erkenntnis erschüttert ihn zutiefst: Er ist am Leben.