Porträt

Das Licht der aufgehenden Sonne tanzt durch ein Fenster in einen Raum. Zwängt sich an seinen schweren Vorhängen vorbei und hüllt ihn in ein verheißungsvolles Zwielicht, welches den Schatten Form und der gelegentlichen Dunkelheit Substanz gibt. Dutzende Bücher liegen, vor Geschichten triefend, über den Boden verteilt und warten auf einen Leser. Unter verschlafenen Laken und durchgeknufften Polstern steht ein Bett. Nicht mit Samt oder Seide, sondern dreifach genähtem Damast bezogen, damit dem Träumer ja keine Träume entfliehen. Neben dem Bett steht ein Kästchen aus hellbraunem Holz. Holz, bei dessen Anblick man in Versuchung gerät selbst Wurzeln zu schlagen, Äste zu wachsen und Vögeln einen Nistplatz zu bieten. Das einen mit dem Geruch von Holzleim und Schellack in Gedanken zu dem Ort führt, an dem es systematisch geschliffen und gehobelt, mit feinsten Intarsien verziert und verschlungenen Arabesken bestückt wurde. Ein leises Echo dieses Ortes, wo die Grenze zwischen Sägespan und Atemluft verfloss, hallt nach. Eine junge Frau steht fasziniert in der Mitte des Raumes, alleine.

Ihre Haare sind braun wie ein Baum, wenn auch nicht so stramm wie sein Stamm. Verspielte Strähnen schmiegen sich ihre Wangen entlang, ranken sich um ihr Gesicht wie Efeu um Granit und machen nur vor zwei Augen halt. Augen, deren Blick hinter Kulissen sieht. Viele Lügen versteht und sich doch vor so mancher Wahrheit versteckt. Zerlesene Zettel auf dem Boden, umrahmen ihre nackten Füße in einem Mosaik aus Papier. Buchstaben setzen Akzente aus tiefster Druckerschwärze, Wörter fügen sich einem größeren Sinn verpflichtet zusammen. Bilden Sätze, die in geschlossener Formation Gefühle versprechen. Manche Seiten hängen in einem unsichtbar zarten Spinnennetz um sie herum, wie Blätter im Fall gefangen, scheinbar genauso besessen darauf das eigene Ende zu erfahren. Die junge Frau hält die letzten Seiten eines Manuskriptes in den Händen, zitternd. In diesem Moment verblasst selbst das grünste Gras gegen den Malachit ihrer Iris, während sich darin mit der Anmut einer Schreibmaschine Bilder fremder Welten spiegeln. Mit jedem Wort das sie liest, drehen sich die Zahnräder eine Drehung weiter, formt sich ihr kohlenschwarzes Herz ein Stück mehr zum Diamant, tickt die Uhr einen Tick voran Richtung Mitternacht. Stiegen zu Beginn des Textes noch die Lampions hoch, so bogen nun, dem Ende nahe, die Metallurgen heißes Eisen.

Die junge Frau fühlt Herbst. Ihr Herz weint tausend Rosen. Viel Zeit muss vergehen, bevor sie sich trauen wird umzublättern. Sie spürt es. Wie der Fisch den Frost, die Wüste den Regen und die Amsel den Sturm. Diese Worte werden sie verändern. Leder und Tinte werden Lichtungen und Bergen weichen. Sie wird ihre Geschichten abstreifen, wie die Ringelnatter ihre Haut. Zeile um Zeile wird ihr Takt sich an den Gezeiten richten, werden ihre bernsteinernen Sätze von unbekanntem Licht durchzogen, ihre Verse einem verbotenen Metrum folgen. Sie wird Verbrechen an sich selbst begehen. Jemand werden, der sie nicht ist. Und sie wird es gerne machen.