ein murmeltiertag

Herr K. war dement. Er war zwar überaus fähig sich selbst zu versorgen, doch sein Leben drehte sich im Kreis. Tag für Tag stand er um dieselbe Uhrzeit auf, machte sich den immergleich starken Kaffee und verzog auf ein und dieselbe Art und Weise den Mund, wenn er seine Post direkt aus dem Postfach in den Müll warf. Wie immer machte er sich danach auf den Weg in die Bäckerei und hielt dabei Ausschau nach einer Katze, um sie zu treten. Herr K. war kein netter Mensch.

Annelise war Bäckerin. Schon ihre Eltern waren Bäcker gewesen und ihr größter Wunsch war es mit dieser Tradition nicht zu brechen. Sie ging jeden Tag mit einem Lächeln aus der Tür, da sie ihren Beruf liebte. Oder vielleicht weil sie sich schon auf die Törtchen freute, mit denen sie „Mähdrescher und Weizenfeld“ spielen würde. So stand sie also gedankenverloren und strudelverdrückend hinter der Theke, wie sie Herrn K. kommen sah. Sie wusste von seiner Krankheit und sie hatte aufrichtig versucht Verständnis zu haben. Jedoch war dieser Vorsatz dem unbändigen Verlangen gewichen, bei seinem Anblick ihre Tagesration Zimtschnecken in sich zu schaufeln und Windgebäck tragend dem Land zu entfliehen. Doch davor hatte sie noch sehr viel mehr Angst und somit schluckte sie ihre restlichen Neapolitaner runter und versuchte trotz schlotternder Beine möglichst unbeteiligt auszusehen. Herr K. betrat die Bäckerei und stellte sich nun wohl zum tausendsten Mal, mit geblähten Backen vor die Kassa. Sie hatte alles versucht, doch er würde nicht antworten, bevor sie ihn fragte: „Herr K., was tun Sie denn da?“ Worauf er antworten würde: „Na, sie sind doch schon so lange auf ihren kräftigen Beinen und mit meinen aufgeblähten Backen“, seine Augen wanderten abschätzig über ihren Körper, „will ich ihnen doch nur bei ihrem aufgeblähten Backen helfen!“ Und während sie schreien könnte, brüllte Herr K. los, sagte: „Jetzt hab dich nicht so, Süße!“, orderte sein Croissant und verließ, sich die Lachfalten aus dem Gesicht streichend, die Bäckerei. Annelise rollte eine einsame Träne die Wange hinunter, denn ihr einziger Wunsch war es, dass Herr K. eines Tages nicht mehr kommen würde. Und dafür hasste sie sich.

So ging Herr K. wieder, auf dem Nachhauseweg schubste er eine alte Dame auf die Straße und wie er wenig später die Tür aufsperrte, drehte er mit der einen Hand den Schlüssel, während er mit der anderen einen Kieselstein auf den Nachbarshund pfefferte, welcher sich daraufhin noch tiefer in seine Ecke verzog. Nun wieder angekommen, setzte er sich an den Tisch und schlug die Zeitung auf, die ihn nun schon seit zwei Jahrzehnten begleitete. Zwanzig Jahre, seit seine Krankheit ihn den selben Tag immer und immer wieder durchleben ließ, er hatte sich verändert. Herr K. war nicht immer gemein gewesen.

Er studierte also die Zeitung, überflog Seite um Seite, als ob er nach etwas suchen würde. Und offensichtlich wurde er fündig, denn sein Gelächter war ohrenbetäubend. Der zweite Brüller des Tages war die Schlagzeile „Frau mit Tochter in tragischem Zugunglück verstorben“. Daneben ein Bild der einst glücklichen Familie. Man konnte das Getöse bis auf die Straße hören, er klopfte sich die Schenkel, bis er nicht mehr konnte und fiel grinsend in seinen Mittagsschlaf. Herr K. war vielleicht nicht immer gemein gewesen, doch Zeiten ändern sich.

Exakt eine Stunde später wachte Herr K. auf und machte sich daran seine ganz spezielle Futtermischung für die Enten des Ententeichs anzurühren. Denn entgegen allen Erwartungen, hatte Herr K. sehr wohl etwas lieb. Enten. Zumindest konnte man sich das denken, wenn er die aus zerschnippeltem Salat, püriertem Hafer und eingeweichtem Brot bestehenden Bällchen liebevoll in seine Tasche packte. Herr K. machte sich also zum Ententeich auf, doch noch bevor die Tür in die Angeln fallen konnte, griff sich Herr K. lachend an den Kopf und machte wie jeden Tag kehrt. Er hatte das Rattengift vergessen. Herr K. war ein Teufel.

Johannes war glücklich. Er war verheiratet mit der Frau seiner Träume und seit nun sieben Jahren zogen sie ihre Tochter in einer nicht endenden Idylle auf. Er hätte nie gedacht, dass sein Leben eine solche Kehrtwende ins Positive machen könnte, doch aus dem Waisenjungen von damals, wurde ein fürsorglicher, verantwortungsbewusster Vater und Ehemann. Sein Leben war eine Erfolgsgeschichte. Jetzt aber picknickte die Familie. Sie waren extra weit rausgefahren, um zu dem weit und breit einzig großen Teich zu kommen und saßen nun im Schatten eines Baumes, einige wenige Enten betrachtend. Auch wenn die Enten spärlich vertreten waren, so war es doch ein wunderschöner Tag und Johannes nahm sein Kind am Arm, um ein bisschen am Wasser spazieren zu gehen. Johannes ließ sich von einer tollen Bastelstunde und einer blöden Hausaufgabe erzählen, wie er einen älteren Mann alleine auf einer Bank sitzen sah. Er wirkte sehr traurig, warf ziellos Brotbällchen auf den Boden, doch kein Vogel wollte anbeißen. Johannes wusste, dass dies seine Chance war, dem Universum etwas zurückzugeben und unterhielt sich kurz mit seiner Tochter darüber, dass man auf ältere Leute Acht geben muss und dass viele oft einfach nur jemanden zum Reden brauchen. Sie war sofort Feuer und Flamme und rannte auf den Herren zu, um mit ihm zu plaudern. Ein so großes Herz für alle, Johannes war vor Stolz zu Tränen gerührt. Er hockte sich zum Wasser und ließ seine Tochter ihre Magie wirken. Sie hatte einfach das Talent Leute glücklich zu machen und siehe da, es funktionierte. Gerade knabberte sie an einem Brötchen des alten Mannes und erzählte ihm sicherlich von ihrer Katze, sein Lächeln war ein durch und durch seliges. Einige Zeit später verabschiedeten sie sich und Herr K. war wieder alleine. Sein Lächeln von vorher, war zu einer unerträglich grinsenden Fratze geworden, links und rechts von Tränenschwallen umgeben. So blieb er noch lange sitzen. Dies war das erste Mal, dass er jemanden ernsthaft in Gefahr brachte.

Herr K. hat eine Grenze überschritten.
Mein lieber Leser, ich glaube wir müssen loslassen. Loslassen von dieser Welt, von Herrn K. Es tut mir leid. Aufrichtig. Ich hätte nicht gedacht, dass die Geschichte diese Richtung einschlägt. Sagen Sie ein Wort und wir verschwinden. Wir müssen nicht verweilen, es gibt so viel Schöneres, wir könnten einfach weggehen. Einfach wegsehen. Niemand wird uns einen Vorwurf machen. Überhaupt, was fällt diesem „K“ eigentlich ein? Was fällt einem Buchstaben ein, uns unsere Geschichte zu vermiesen? Aber Sie haben zu entscheiden. Ich gebe Ihnen noch Zeit.

Sie schweigen also, nun denn. Herr K. bleibt am Leben und wir blicken weiterhin über seine Schulter. Vielleicht hat alles einen Grund. Vielleicht.

Es war Abend geworden und Herr K. saß auf der Veranda. Grillen durchbrachen mit ihrem Zirpen die Stille der Nacht und Glühwürmchen schlugen der Dunkelheit goldene Wunden. Herr K. saß auf seinem Lieblingsstuhl, ein Glas Bier in der rechten, ein Foto in der linken Hand. Auf dem Verandatisch die altbekannte Zeitung, mit der altbekannten Schlagzeile. Herr K. betrachtete das Foto und sah herbstbraune Haare im Wind flattern, er spürte seine Hand, wie sie die Haare eines Kindes zerzausten. Er fühlte sich zurückversetzt an Tage voller Sonnenschein und an Gläser randvoll mit Wein. Er erinnerte sich an das Lächeln, das Lachen und die Liebe. An all das Glück. Mit einem Klirren zerbrach das Glas. Blut rannte seinen Arm hinunter, vermengte sich mit nicht endenden Tränen. Die linke Hand stützte nun das schmerzverzerrte Gesicht, das Foto trudelte langsam auf den Tisch. Es fiel auf die Zeitung, direkt neben das Bild der Verstorbenen.

Es war ein und dasselbe.