Herr Kuschel

Kapitel 1

Lily war immer schon ein schüchternes Kind gewesen. Wenn ihre Eltern sie zum Essen riefen, versteckte Lily sich in jedem erdenklichen Kasten, sodass sie zum Esstisch nur noch geflüstert wurde. Flitzten die Nachbarskinder spätabends springend und tollend durch die Straßen, lag Lily unter einem Hügel aus Decken wie Pölstern und malte sich mit Pastellkreiden in große, dunkle Höhlen. Zu ihrem zehnten Geburtstag wanderte ihre Familie mit ihr in einen tiefen Wald und keiner sprach von Früh bis Abend ein einziges Wort, was wohl der beste Tag in Lilys bisherigem Leben war.

Als solch ruhige und kontrollierte Person ließ Lily sich in die Schubladen ihrer Mitmenschen einsortieren. Doch in Lily war es gar nicht ruhig. In Lily stürmte es. Tag um Tag krachten die Wellen ihrer Gefühle gegen die Klippen ihrer Person. Wogten ihre Gezeiten ohne Halt, ohne Rücksicht, ohne Gnade unter dem dunklen Mond ihrer selbst. Und immerwegs saß inmitten dieser Bewegungen ein kleines Mädchen und wusste nicht wohin mit sich. Sie hatte sich damit zufrieden gegeben, ihre Bewegungen eisern hinter Schloss und Riegel zu halten, sich ihr einziger Kapitän zu bleiben. Lily war gut darin geworden sich einzufügen, mit dem Hintergrund zu verschmelzen, eines der unerkannten Zahnräder der Maschine des Lebens zu sein.

Bis sie Herrn Kuschel traf. Beide lernten sich kennen, als Lily, unter der Brücke mit den gelben Blumen, Herrn Kuschel beim Sprayen eines Anarcho-Zeichens beobachtete. Noch nie hatte sie einen Teddybären ein Verbrechen begehen gesehen. Ein unbändiges Grinsen schlich sich auf ihre Lippen, das Lily gänzlich ungewohnt war und auch nicht wieder weg ging. Sie fühlte sich dem Zeichen hingezogen wie die Katze dem Kater, die Mücke dem Licht und wie sie bald lernen würde, die Unterdrückung dem Menschen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit an geröteten Wangen und einem komischen Gefühl im Bauch, hatte Lily, in all ihrer kindlichen Unschuld, irgendwie verstanden, dass sie sich gerade verliebt hatte. Und als Herr Kuschel die Dose dann schüttelte und ein “FUCK THE SYSTEM” ansetzte, konnte sie sich nicht halten, das zu tun, was niemand, sie miteingeschlossen, jemals von ihr erwartet hätte. Sie ging auf ihn zu. Blickte ihn an. Und stellte sich vor.

Damit begann ein Leben voller Symbolik, Schwarzpulver und aufwühlender Reden. Denn Herr Kuschel war ein Anarchist.

Kapitel 2

Herr Kuschel schob den Vorhang aus Tabakqualm beiseite, der das Hinterzimmer des Hölzernen Schuh vor neugierigen Blicken verschlossen hielt und führte Lily in ein Labyrinth aus beständigem Gemurmel, bestückt mit funkelnden Augen im Schatten hoher Hüte. Hände schüttelnd schob Herr Kuschel sich und Lily durch den dichten Nebel, seine Wortwechsel leise und präzise. Nur eine der Hände ließ, mit einem rasch geäußerten “Freiheit für Baron Piep!”, etwas Lebendiges an sich erahnen, wobei die Anwesenden alles daranlegten, den Moment ungeschehen zu machen. Doch statt es ihnen gleich zu tun, krempelte Herr Kuschel weder seinen Mantelkragen hoch, noch vertiefte er sich demonstrativ in einer Zeitung. Er drückte die Hand fest, hielt sie nur für den Bruchteil einer Sekunde länger als nötig und hatte doch dem ganzen Raum eine eindeutige Nachricht gesandt. Herr Kuschel stand hinter Baron Piep. Wie ein Laubfeuer an einem nieseligen Tag, schwabbte die Nachricht durch die diffusen Lichtverhältnisse des Raumes und brachte Ohren zum Lauschen.

Wenig später teilte sich der Rauch und enthüllte eine Lichtung. Eine Lichtung voller Bücher und Vorräte, einen zum Mobiliar umfunktionierten Billiardtisch und zweierlei illustre Gestalten. Herr Kuschel verbeugte sich tief vor einer verschleierten Frau, welche sich mit rauchiger Stimme vorstellte: “Dame Kulimu, zu Ihren Diensten.” Daneben eine Eminenz an Tweed und Bauchumfang, hinter einer Gleitsichtbrille und der rohen Gewalt zweiundvierzig messerscharfer Zähne dröhnte es hervor: “Ich bin Genosse Bär. Du musst Lily sein.”

Nachdem Lily eifrig Hände geschüttelt und die beiden sich niedergesetzt hatten, wurde eine Kaffeekanne herumgereicht und Genosse Bär erhob seine Stimme: “Wir stehen vor einer richtungsweisenden Entscheidung. Ich appelliere an Ihre Geduld. Ideologische Fragen sind ungeklärt. Logistische Probleme ungelöst. Noch sind nicht alle Figuren in Position.” Lily horchte auf. Ein kleines Kichern der Dame Kulimu. Eine gewisse Schärfe in ihrem Griff zum Würfelzucker. Lily sah einen Falken im Sturzflug. Und wie auf ein Stichwort setzte Dame Kulimu an: “Wir nehmen es doch als selbstevident, dass die Freiheit des Individuums in der staatlichen Gesamtheit nicht gegeben ist.” Zustimmendes Nicken. “Und konvergieren wir nicht auf der Überzeugung, ein Leben ohne Freiheit gar nicht erst Leben zu nennen?” Genosse Bär blickte immer finsterer. “Uns ist eine moralische Pflicht zuteil, die wir nicht weiter vernachlässigen können. Zweifelsohne ist die Zeit gekommen, unsere Pläne zu akzelerieren.” Herr Kuschel übernahm das Wort. “Dame Kulimu und ich sind einer Meinung. Ich hoffe Sie werden uns eines Tages verzeihen können.” Genosse Bär schlug mit seiner Faust auf den Tisch: “Der Baron hätte das niemals zugelassen!” Lily zuckte zusammen. Genosse Bärs Wangen röteten sich. “Tut mir leid, Kleines.”

Durch das folgende Schweigen hindurch, stupste Lily Herrn Kuschel an und flüsterte: “Wer ist der Baron?” Betretene Stille. “Ein Dilettant.”, zischte Dame Kulimu. “Ein wahrer Freund.”, erwiderte Genosse Bär erbost. “Ein Held.”, stellte Herr Kuschel in klarem Ton fest. “Baron Piep wusste zu viel und der Arm unserer Feinde ist lang.” Er blickte Genosse Bär direkt an. “Aber Sie irren sich. Der Baron hatte seine Meinung geändert.” Herr Kuschel holte ein Stück Pergament hervor, voll mit den scharfen Linien einer fanatischen Feder, unterzeichnet mit vier in Tinte getauchten Krallen. Überraschung spiegelte sich in den anwesenden Gesichtern wider. Genosse Bär senkte seinen Kopf. “Wir begehen einen Fehler. Sie liegen alle falsch. Doch wenn Sie die Unterstützung des Baron haben… werde ich mich fügen. In Zeiten wie diesen, müssen wir geschlossen auftreten.” Die Gemeinschaft stand erhaben auf und vor Lilys innerem Auge tanzten schon die Feuer der Veränderung, die der Moment zu versprechen schien.

Sie reichten den Vertrag reihum und schlussendlich drückte Herr Kuschel seine tintene Pfote neben die Krallen, zwei Klauen und eine Tatze: “Somit ist es beschlossen. Die Schwarze Rose wird ihre Dornen zeigen.”, sprach er feierlich. Und als Dame Kulimu den Port holen ging, blickten sich Lily und Herr Kuschel aufgeregt an. “Und was passiert jetzt?”, fragte Lily mit großen Augen. Herr Kuschel grinste sie an. “Jetzt warten wir auf die Revolution.”