Schildbürger

Der Linzer Hauptbahnhof. Ein Ort des Reisens. Wo Menschen von weit und breit immer auf den Füßen sind. Nicht die Zeit haben, sich vom grellen Licht der Neonreklamen blenden zu lassen, nicht die Myriade an Gerüchen einfangen und verarbeiten können. Wo alles wurlt und wuselt, nichts niemals stehen bleibt. Nur der seltene Wanderer nimmt sich den Moment und fängt Bilder ein, die er nie vergessen wird. Ja, das ist Tokio. Halt was, nein, wir sind doch in Linz. Verwechslung, meine Schuld. Der Linzer Hauptbahnhof. Ganz salopp gesagt sind die meisten Leute hier nicht unterwegs, sondern arbeitslos. Neonreklamen gibt es nicht, trotzdem ist irgendwie alles hell und ungut. Stress ohne Atmosphäre. Und unter den hervorstechenden Gerüchen logieren Big Mac und Kotze ganz weit oben. Niemand wird ihn jemals vergessen und gleichzeitig wird sich niemand jemals an ihn erinnern, zwei steinerne Löwen bewachen den Eingang, aber nur in eine Richtung. So.

Und damit ist die Szene gesetzt für eine bedrückend kleine Beobachtung. Am Linzer Hauptbahnhof ist eine große Stiege und auf dieser großen Stiege sind in gleichmäßigen Abständen drei Schilder mit „BITTE STIEGE FREIHALTEN“ angebracht. Und im Angesicht der gebündelten Kriminalität des Linzer Hauptbahnhofes, in der Mord wie Totschlag in der Größenordnung von Butterbroten gehandelt werden, sollte man sich eigentlich eine konsequente Vernachlässigung dieser Aufforderung erwarten dürfen. Ja, es gibt genügend andere Sitzmöglichkeiten, aber diese Stiege ist sauber. Sie ist schön. Majestätisch, sogar. Wieso also sitzt dort keiner bzw. wieso gibt es zumindest keinen aktiven Kampf darum? Security ist die einfache, sowie korrekte Antwort. Bis an die Zähne bewaffnete, Grimassen fetzende, Stahl kauende, unbestechliche Kampfmaschinen. Woher nehmen diese Bestien ihre Macht? Aus Kniescheiben zertrümmernden Schlagstöcken, höre ich. Aus ihrer Willigkeit zur Gewalt, sagen die einen. Einem erhabenen Bizeps, die anderen. Nicht ganz, sage ich. Wären es nur diese lebenden Sensenmänner, die die Ordnung aufrechterhalten, würde immer wieder wer auf der Stiege sitzen. Einfach aus dem Umstand, dass eine gut genug gedrillte Horde Jugos noch so jeden Krieger in die Knie zwingen kann [siehe Schlacht bei den Thermopylen]. Es gäbe Hoffnung und es gäbe sie immer, wenn nur Personen über das Schlachtfeld wandeln würden. Aber hier kommen die Schilder ins Spiel. Denn es geht nicht nur um Menschen. Es geht um eine hoffnungszerbröselnde, geistzertrümmernde, seelenraubende Instanz, die über uns allen steht. Der Staat! Denn in Wahrheit flüstern die Schilder nicht „BITTE STIEGE FREIHALTEN“, sondern sie schreien „WIR HABEN PANZER“. Klein darunter steht halt auch „WENNS SEIN MUSS“. Klein groß. Diese Schilder haben eine Macht, die weit über jeglichen (menschlichen) Waffen vor Ort steht. Sie bezeugt allen Passanten, dass solange der Staat Österreich existiert, diese Stiege unter seinem Schutz steht. „BITTE STIEGE FREIHALTEN“ ist ein Versprechen, dass wenn ihr einen der hiesigen Elitekämpfer überwältigt, die Regierung zehn neue schickt, er für jede eurer Spielereien einen Meter Stacheldraht mehr legt. Es keinen Sieg über die Stiege geben kann. Punkt. Und jeder der sich durch diese Ankündigung nicht eingeschüchtert, sondern versichert fühlt, fügt sich ein in die Maschinerie, die die Stiege weiterhin schützt, sowie weitere Schilder druckt. Schlussendlich zeigt sich die letzte Verteidigungslinie (welche aus lokalen Gegebenheiten niemals erreicht wird, außer die Reinkarnation von Dschingis Khan fliegt aus der Tischlerlehre und patzt sich mit seinem McFlurry an) darin, dass falls der Staat scheitert, es mutmaßlich keinen intakten Hauptbahnhof mehr geben wird. Und damit keine saubere Stiege.

Der Traum der Stiege. So nah und doch so fern. Ewig ungreifbar. Verrückte Welt.